Beschreibung
»Dass es Berlin genau genommen gar nicht gibt, sondern nur einen Haufen von Dörfern, der Berlin heißt«: Ein Berliner war es, der dies vor gut hundert Jahren feststellte. Henry F. Urban hieß er, lebte in New York und stattete seiner Geburtsstadt eine Stippvisite ab. Was er antraf, war eine sonderbare »Eifersucht, mit der die Bewohner jedes einzelnen Dorfes über ihre lokale Getrenntheit wachen.« Mit dieser Getrenntheit war es 1920 vorbei, sieben Nachbarstädte (darunter Wilmersdorf, Charlottenburg oder Spandau), 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke wurden eingemeindet. Widerstand kam vor allem aus reichen Gemeinden wie Friedenau oder Lankwitz und natürlich aus dem Grunewald – die Villenbesitzer wollten dem »sozialistischen Moloch« keine Steuergelder hinterherschmeißen. Trotzdem: Groß-Berlin wurde zur damals drittgrößten Stadt der Welt. Alles, was seither über die Stadt hergefallen ist, die Hitze der Inflationen, die Bomben im Weltkrieg, die heißen Krisen des Kalten Krieges, der Morgen des 13. August und die Nacht des 9. November hat nichts daran geändert, dass die Stadt ein Sammelsurium von »Kiezen«, Dörfern, eigenen »Ecken« oder eigenartigen Stadtteilen geblieben ist.
Verschiedene Orte bzw. Gegenstände, die es 1920 bereits gab und heute, hundert Jahre später, immer noch auffindbar sind, sollen Typisches aufzeigen und Bezüge zur Gegenwart herstellen. Es geht um Entdeckungen zweiten, dritten Blickes: Steine und Stufen verschwundener Schlösser, ein Baum mit Historie oder ein altes Kreuz an schlimmem Ort. Und vor allem um Menschen, die Berlin als soziale Besonderheit geprägt haben: Straßenmusikanten im Wedding, Näherinnen vom Hausvogteiplatz, mildtätige Fabrikanten, ein schießwütiger Polizeipräsident in der Jungfernheide oder Bauern, die sich beim Einfangen von Deserteuren vor dem Halleschen Tor Kopfgelder verdienten. Eine wilde Mischung – und das alles sehr kenntnisreich und spannend erzählt.
Leseprobe:
Die wippende Wanne in Treptow
Zweiundvierzig Mark. Das ist viel Geld damals, um 1900 zum Beispiel, als Siemens im Wernerwerk einem Lagerarbeiter 30 bis 40 Pfennig als Anfangsstundenlohn zahlt, 10 bis 15 Pfennig mehr als seiner Kollegin. Zweiundvierzig Mark verlangt die Sanitärfirma Moosdorf & Hochhäusler für ihre kleinste, aber ingeniöse Zinkbadewanne (größere gab es zu 46 und 48 Mark). Deren Clou: Der gerundete Wannenboden. Lebhaftes Schaukeln ermöglicht er, wo Badezimmer fehlen, ein Wippen und Wogen, bis ein Seegang erreicht ist, dass die Wellenspitzen in die Küche spritzen.
Ein Exemplar dieses sanitären Spleens präsentiert im alten Johannisthaler Rathaus das Treptow Museum. Und dies mit Fug und Recht. Denn in Treptow wurde das Kuriosum mit großem Erfolg hergestellt und vertrieben, in jenem Vorort der Reichshauptstadt, der um 1900 dabei war, seinen Charakter zu ändern – vom fischerdörflichen Ausflugsziel zum Industriestandort. Bekannte Namen markierten die Giebel und Firste der wachsenden Fabriken: Der Leuchtenhersteller Ehrich & Graetz, C. A. F. Kahlbaums Chemiefirma, die AEG und Schuckert & Co aus der Elektrizitätsbranche. Nicht von ungefähr wählte daher der Verein Berliner Kaufleute und Industrieller 1896 Treptow zum Ort seiner Berliner Gewerbeausstellung, einer umfassenden Leistungsschau deutschen Könnens und deutschen Wesens.