Beschreibung
2024 jährt sich der Todestag Franz Kafkas zum hundertsten Mal. Margarete Kohlenbach, eine versierte Kennerin von Kafkas Werk und unkonventionell denkende und schreibende Literaturwissenschaftlerin, beschäftigt sich in diesem einfühlsamen und klugen Buch mit den Aufzeichnungen, die Kafka während seines krankheitsbedingten Aufenthalts (1917-1918) in dem böhmischen Dorf Zürau vornahm. Zuvor war bei dem Schriftsteller, der sich ohnehin in einer tiefen Lebenskrise befand, Tuberkulose festgestellt worden – eine damals lebensbedrohliche Krankheit. In seinen Zürauer Heften und den sogenannten »Zürauer Aphorismen«, die aus ihnen hervorgingen, reflektiert und bekämpft Kafka diese doppelte Bedrohung. An einem Tiefpunkt seiner an Krisen und Schuldgefühlen überreichen Existenz beginnt er neu –, ein Aufbruch, der auch im Stil seiner Aphorismen ablesbar ist, deren Verwegenheit und Bedeutung weit über Kafkas künstlerische Existenz als Schriftsteller hinausreichen. In einer intensiver Auseinandersetzung mit biographischen Fakten, dem gesellschaftlichen Kontext, Kafkas Texten, Notaten und Briefen sowie in seiner unbefangenen Sprache bietet das Buch einen erhellenden und neuen Einblick in Kafkas Denken, Schreiben und Leben.
Leseprobe:
12. September 1917. Der Landesadvokat JUDr. Otto Přibram ist tot. In der Morgenausgabe des Prager Tagblatts erscheinen auf mehr als einer Seite vier fettgedruckte Todesanzeigen. Felix Hecht, »der am 23. August an der Isonzofront den Heldentod erlitt«, bekommt nur eine, unterhalb von Suchanzeigen für Last- und Personenautos. Seine zwei Brüder sind noch »im Felde«.
Um 14 Uhr verlässt JUDr. Franz Kafka Prag. Er reist in das nordböhmische Dorf Zürau zu seiner Lieblingsschwester Ottla, – ob mit oder ohne Zeitung, ist nicht bekannt. Ottla Kafka bewirtschaftet in Zürau einen kleinen Bauernhof. Sie hat sich, von ihrem Bruder unterstützt, der Arbeit in dem Prager Galanteriewaren-Geschäft des Vaters und den bürgerlichen Erwartungen der Eltern entzogen.
Als unabkömmlicher Unfallversicherungsbeamter ist der anreisende Bruder vom Kriegsdienst freigestellt. Er wird in Zürau von der Zwölften Isonzoschlacht am Tagliamento träumen. Felix Hecht ist seit der Elften heldentot, der Schlachtenträumer ein Zuschauer, der um den guten Ausgang und sein eigenes Leben bangt. Ihn erlöst – theaterwirksam – das Eingreifen preußischer Garde. Der Todesgang der Gardesoldaten ist selbstverständlich, seine Selbstverständlichkeit erhebend. Keine Giftgasgranaten, keine verendenden Pferde, Ratten, Menschen in der Traumschlacht.
Wann immer er kann, schreibt JUDr. Kafka Geschichten und vielerlei. Letzthin gelang ihm einiges. Jetzt bezeichnet der Reisende einen seiner Koffer als Sarg. Der Zivilist hat Grund, um sein Leben zu bangen.
Pressestimmen
Der Tagesspiegel Gregor Dotzauer
Die Literaturwissenschaftlerin Margarete Kohlenbach unternimmt einen eigenwilligen Durchgang durch die Aufzeichnungen, die Kafka zwischen September 1917 und April 1918 anfertigte. Zwischen Close Reading, Quellensuche, Interpretation und Paraphrase legt sie in kurzen Absätzen ein eigenes Textgeflecht an, das Kafka nicht nur traditionell zitiert, sondern mit blau gefetteten Zitaten einzelner Wörter und Formulierungen einverleibt.
10.1.2024
Zum Artikel